
Doch Neil Young wäre nicht er selbst, würde er dieses
irritierende Vorspiel vorzeitig beenden; also hampeln seine Mad
Scientists so lange dämlich herum, bis das Publikum entnervt in
Pfeifkaskaden ausbricht. Da endlich tappst er herein, gegen 21 Uhr, schwarz
gewandet mit Jacke, Hut und dicken Stiefeln, was der schier unerträglichen
Hitze in der Stuttgarter Schleyerhalle zu trotzen
scheinen. Aber so kennt man ihn, gewisse rebellische Wüstenvölker leben nach
dem gleichen Prinzip.
Riesige Verstärkerattrappen eines bekannten
US-Instrumenteherstellers, dessen Vintage-Erzeugnisse der Meister des
schräg-genialen Gitarrenspiels bekanntlich schätzt und hortet, sowie wuchtige
Bildschirme im Sechzigerjahredesign vermitteln eine erstaunlich heimelige
Atmosphäre. Mr Young aber kontrastiert die Gemütlichkeit. Er reiht sich mit
seiner Truppe kerzengerade auf, die Deutsche Fahne weht, und wir hören unsere
Nationalhymne vom Band. Ironie oder echte Hommage von einem Mann, der mit
„Rockin’ In The Free World“ die deutsche Wiedervereinigung begleitete?
Wie immer gibt es bei Neil Young keine Erklärungen. Er macht
einfach. Lässt sich seine legendäre schwarze 1953er Gibson-Gitarre umhängen und haut in
die Saiten. Zwei Akkorde, gefühlt mindestens zwölf Minuten lang, „Love And Only Love“
…
O ewiger, zeitloser, schwerleichter Groove, den keiner so
beherrscht wie Neil Young & Crazy Horse. Darauf haben wir gewartet. Ein
epischer, archaischer Sound, den nur vier Mann erzeugen (und ein unversteckter
Bühnentechniker, der die Spezialeffekte beisteuert). Ein Mann im Bühnengraben
sorgt mit einem Handventilator dafür, dass die goldgelbe Reiter-Standarte stets
stilvoll um Young bei seinen Soli weht. Zur gleichen Zeit erreicht der Vollmond über Stuttgart
seinen Höhepunkt, und Young, der seine Alben angeblich bevorzugt bei Vollmond
aufnimmt, zelebriert ein musikalisches Ritual, bei dem seine beiden
Saitenspielerkollegen an Bass und Rhythmusgitarre ihm gegenüber stehen wie bei einem
stampfenden Indianertanz; sie reiben sich aneinander auf, mit Wucht und
Schlichtheit – es ist grandios. „Alchemie-Tour“ hat Young die aktuelle
Konzertreise getauft, und tatsächlich vermengt der Meister der steifen Hand bei
seinem erst dritten Gastspiel in Stuttgart vor rund 10.000 enthusiastischen
Anhängern. Es ist eine einzigartige, willkürliche, laute, teilweise
auch unverhohlen nervtötende Zeitreise, die mit Regengüssen über dem
Woodstock-Logo spielt und dem aktuellen psychedelischen Revival etwas
Authentisches vorsetzt, das überraschend viele junge Leute angezogen hat. Von
seinen zahlreichen Krankheiten sichtbar gezeichnet, schafft es der Godfather
of Grunge, zehnminütige Feedbackorgien und simple
Straßenmusiker-Einlagen mit Mundharmonika zu etwas
Ganzem zu vereinbaren. Nie hat man bei ihm das Gefühl, dass etwas von außen
kommt; er erzeugt von innen heraus, steht ganz nah bei sich und zu seiner
unverkennbar raren, auch widersprüchlichen Individualität. Und das erklärt und
rechtfertigt, warum nach zwei ein halb wirklich anstrengenden Stunden mit
seltenen und unbekannten Songs das Publikum unverdrossen mehr fordert,
bis das Hallenlicht angeht und neonweich zum Aufbruch mahnt. Thank you, Neil
Young - er hatte zur Zugabe „Like A Hurricane“ sogar seine Jacke ausgezogen!